An: ohcecilia80@ibercorreos.es
Von: sven_bzw_svalbard@bluewin.ch
Betreff: Grüsse aus der Schweiz
Liebe Cecilia
Wie geht es dir? Ich weiss nicht, ob du dich an mich erinnerst. Wir waren vor 25 Jahren zusammen im Englisch bei Herrn Brecher. Jeden Montag und Mittwoch sassen wir uns gegenüber, du am einen Ende der hufeisenförmig angeordneten Pulte, ich am anderen Ende.
Wir haben im gesamten Leben kaum mehr als zehn Worte miteinander gesprochen, denn ich verliess nach der Stunde jeweils fluchtartig das Zimmer, aus Angst, mein Kopf würde zu einer Monstertomate anschwellen, wenn du mich ansprichst. Mein Englischheft jedoch enthielt tausend Botschaften an dich, etwa das ausgeklügelte Gedicht mit dem Titel „Deine Augen“, das ich damals nicht einmal ansatzweise kitschig fand.
Nun ist es so: Ich stecke in der Midlife-Crisis. Veranlasst hat die Krise Lisa, meine Freundin – momentan Ex-Freundin, aber hoffentlich nicht für lange. Sie findet, ich hätte die Bindung zum Leben im Allgemeinen und zu meinen Gefühlen im Besonderen verloren, und solange ich dies nicht änderte, hätten wir keine Zukunft. Ich kann zwar reinen Gewissens sagen, dass ich meine (Ex-) Freundin liebe, aber ich kann es nicht mit jener Leidenschaft sagen, mit der es offenbar angemessen wäre.
Obwohl ich sie gestern Sandy, das bärtige Model, habe küssen sehen, würde ich sie heute ohne Zögern auf Händen zurück in unsere Wohnung tragen. Ist das wirklich Liebe, oder ist es Bequemlichkeit? Wenn zwischen mir und Lisa wahre Liebe wäre, müsste ich dann nicht „Verrat“ schreien, Badehosen-Sandy zum Duell fordern oder vor ihrem Fenster herzzerreissende Schnulzen schmettern? Vielleicht ist es der Lauf des Lebens, dass unsere Gefühle mit der Zeit an Intensität verlieren, vielleicht hat Lisa aber auch recht und es liegt an mir.
Ich weiss nicht, wann meine Gefühle auf der Strecke geblieben sind. Was ich weiss, ist, dass sie einmal existiert haben – die vollgekritzelten Seitenränder von „Hello there“ Band 1 und 2 beweisen es. Ich kann mich noch so bildhaft daran erinnern, wie du mich immer angelächelt hast, wenn Herr Brecher „well then, ladies and lads“ gesagt hat – was ja mindestens fünfmal pro Stunde geschah – dass ich jedesmal wehmütig an dich denke, wenn jemand „well then“ sagt. Als deine Familie damals mitten im Schuljahr zurück nach Spanien zog, floss mehr als nur Wasser die Reuss hinab.
Mein Plan: Ich besuche alle Frauen, in die ich vor Lisa verliebt war. Mein Ziel: Ich will herausfinden, wie diese Lieben beschaffen waren, wie sie sich veränderten, und was für eine Zukunft sie gehabt hätten. Meine Hoffnung: Du lässt dich auf das Experiment ein und siehst es nicht als Störfaktor in deinem hoffentlich glücklichen Leben, wenn ich dich besuchen komme.
Ich reise in zwei Wochen nach Spanien. Hast du Lust, mich zu treffen?
Liebe Grüsse, Sven, bzw. damals eben Svalbard
Ich las die E-Mail mehrere Male durch. Ich feilte hier ein bisschen, dort ein bisschen. Dann löschte ich den Absatz mit Sandy, dann den gesamten Mittelteil, und schliesslich sendete ich Folgendes:
Liebe Cecilia
Wie geht es dir? Ich weiss nicht, ob du dich an mich erinnerst. Wir waren vor 25 Jahren zusammen im Englisch bei Herrn Brecher. Ich reise in zwei Wochen nach Spanien. Hast du Lust, mich zu treffen?
Liebe Grüsse, Svalbard
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