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6 – Oh Cecilia!

Es ist verblüffend, an was für Details sich unser Gehirn auch nach Jahrzehnten noch erinnert:

 

Die Uhr macht nicht mehr Tick,

wenn ich in deine Augen blick’.

Ich will in deine Grübchen tippen,

und an deinen Fingern nippen.

Dein Lächeln weckt in mir ‚nen Schrei,

doch dann ist die Stunde schon vorbei.

 

Ich sass im Flieger nach Madrid und grinste, als ich mich an das Gedicht erinnerte, das ich mit Fünfzehn über Cecilia geschrieben hatte. Ich wusste nach 25 Jahren noch jedes Wort, und ich erinnerte mich auch haargenau daran, wie sie damals ausgesehen hatte. Die Bilder in meinem Kopfkino zeigten mir gestochen scharf, wie Cecilia nach dem Kugelschreiber griff und ihn unbewusst zwischen ihren Fingern drehte. Wie sie mit keckem Lächeln Herrn Brechers Fragen auswich, wenn sie die Antwort nicht wusste. Und – natürlich – wie sie mir über die Kluft der Schulpulte hinweg zulächelte und mein Herz zum Schmelzen brachte.

„So, wie Sie strahlen, müssen das schöne Gedanken sein, die Sie gerade haben“, sagte meine Sitznachbarin zu mir. Sie war aus Zürich und wollte ihre Enkelkinder in Toledo besuchen.

Ich erzählte ihr davon, dass ich meinen Schulschwarm treffen würde und trug ihr das Gedicht vor, worauf sie herzhaft lachte.

„Das wäre ja wie im Film, wenn Sie und Cecilia nach all der Zeit wieder zusammenkommen würden“, sagte sie.

„Nein, nein“, korrigierte ich. Ich erklärte, ich hätte schon eine Freundin, und Cecilia sei verheiratet, und eigentlich würde ich nur nach Spanien reisen, um herauszufinden, wie ein Leben mit Cecilia wohl gewesen wäre, weil ich hoffte, so das verlorene Gefühl der Liebe wiederzufinden.

Sie schaute mich lange an. „Ach so“, sagte sie schliesslich, blinzelte ein paar Mal und drehte den Kopf zum Fenster, um Wolken zu zählen.

Ich kam mir vor wie der letzte Psycho und fragte mich, ob ich mit meinem Krisenprojekt einen schrecklichen Fehler machte. War es unanständig, nach all den Jahren bei jemandem aufzutauchen, den man mal geliebt hatte? Nein. War es verwerflich, dies zu tun, um etwas über die Liebe zu lernen? Vielleicht, nämlich dann, wenn man die Gefühlswelt der anderen Person aus der Balance brachte. Plötzlich war ich unendlich erleichtert, dass ich bei meiner E-Mail den langen Mittelteil gelöscht hatte.

Cecilia hatte nach meiner Anfrage erfreut zurückgeschrieben: Sie erinnere sich gut an mich, sie hätte gerade kürzlich an mich gedacht, als jemand „well then“ sagte. Das habe doch Herr Brecher auch ständig gesagt, und wir hätten uns dann immer zugezwinkert. Ich dürfte sie gerne besuchen, wenn mir die Reise nicht zu mühsam sei – sie und ihr Mann wohnten in einem abgelegenen Dorf im Nordwesten Spaniens nahe Portugal. Ich solle von Madrid aus nach Léon fliegen, von dort über Ponferrada nach Ferradillo reisen und dann am besten ein Taxi nehmen. Ich könne bleiben, solange ich wolle.

Wie lange das sein würde, wusste ich nicht. Zeitlich war ich ungebunden: Am Tag nach der Sandy-Sache war ich zu meiner Chefin ins Büro marschiert und hatte sie um eine Auszeit gebeten. Erstaunlicherweise ging sie sofort darauf ein. Sie hätte schon länger das Gefühl, ich wirke ausgebrannt, irgendwie leer, darum sei diese Pause eine gute Sache. Ich solle doch meine aktuellen Projekte abschliessen und zwei, drei Monate verreisen.

Ich konnte also in Spanien bleiben, so lange ich wünschte. Nach dem Erlebnis mit meiner Sitznachbarin nahm ich mir aber vor, mein Gastrecht bei Cecilia nicht zu strapazieren, und vor allem die Gründe meines Besuchs nicht allzu offen zu kommunizieren. Es war eine Sache, wenn mich eine x-beliebige Zürcherin aus dem Flieger für einen Psycho hielt. Wenn aber Cecilia im Verlauf des Besuchs dasselbe von mir zu denken anfing, würde ich mich unendlich schämen.

Ich stieg um ins Flugzeug nach Léon, nahm dort den Fernbus nach Ponferrada, reiste mit Regionalbussen weiter nach Ferradillo und beobachtete, wie die Umgebung von da an immer ländlicher wurde. Ich sprach einige Brocken Spanisch, denn ich hatte damals zuhause wie ein Besessener gebüffelt, um mich auch in Cecilias Muttersprache nicht zu getrauen, sie anzusprechen. Und so fragte ich an der Endstation rum, ob jemand wüsste, wo Cecilias Adresse lag.

„Cecilia? Señora Montero? Sì, sì“, antwortete man mit Enthusiasmus, und mehrere Leute boten an, mich hinzubegleiten. Ein junger Kerl namens Emilio führte mich durch das idyllische Dorf, dann bergauf über eine schlecht asphaltierte Strasse, durch ein kleines Waldstück und schliesslich auf einen Bauernhof zu. Wir mussten uns den Weg durch eine Schafherde bahnen – der alte Schäfer grüsste Emilio und musterte mich kritisch. Emilio wies zur Tür und bat mich, Cecilia Grüsse auszurichten.

Aus dem Fenster strömte verführerischer Backduft. Jemand summte im Inneren des Hauses. Und bevor ich mich dazu durchringen konnte, an die Tür zu klopfen, trat Cecilia aus dem Haus.

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