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7 – Die Uhr

Im oberen Stock des alten Bauernhauses sassen wir uns am Küchentisch gegenüber und klammerten uns an einer Tasse Kaffee fest. Irgendwo hörte man eine Uhr ticken.

Es war nicht erstaunlich, dass Cecilia und ich keinen Gesprächsstoff fanden: Wir hatten wegen meiner Schüchternheit damals kaum mehr als ein Hallo ausgetauscht. Das einzige gemeinsame Thema – die Englischstunden bei Herrn Brecher – erschöpfte sich schnell.

„Hast du noch Kontakt zu Sandra?“, fragte Cecilia.

„War das deine Pultnachbarin? Die einmal die Haare grün gefärbt hatte?“

„Nein, das war Janine“, antwortete sie. „Sandra war die mit dem Nasenpiercing. Damit war man 1996 ja noch etwas Besonderes.“

„Ach so, ja, Sandra mit dem Nasenpiercing.“ Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinte. Meine Erinnerungen an die Stunden waren so stark an Cecilia gekoppelt, dass alles rundherum gründlich verblasst war.

„Und?“, fragte sie.

„Und was?“, fragte ich zurück.

„Habt ihr noch Kontakt, du und Sandra?“

„Ah, nein, leider nicht.“

So zog sich das Gespräch in die Länge. Abwechselnd schlürften wir am Kaffee oder nahmen einen Bissen Apfelkuchen, um die tickende Uhr zu übertönen.

Cecilia war nicht das, was ich erwartet hatte. Das wird nun gleich schrecklich oberflächlich klingen: Ihr Gang wirkte watschelig, ihre Hüften waren in die Breite gegangen, ihre Hände waren auf klobige Weise kräftig und ihr Kinn setzte dazu an, sich in den kommenden Jahren zu verdoppeln. Das Mädchen, dessen berauschendes Bild ich im Flieger vor dem inneren Auge gemalt hatte, war zu einer rustikalen Matrone aufgequollen.

Natürlich war mir klar, dass 25 Jahre an niemandem spurlos vorbei gingen. Und es ist nicht so, dass mir bei Frauen das Äussere wichtiger wäre als der Charakter. Mein Bruder Ron wird es nie müde zu unken, die Auswahl meiner Liebschaften sei Symptom einer akuten Hornhautverkrümmung. Aber gerade dieser Charakter schien sich bei Cecilia ebenfalls gewandelt zu haben: Wo war das listige Lächeln, wo das kecke Kokettieren? Es kam mir vor, als hätte die junge Frau, die ich damals geliebt hatte, gar nie existiert.

Unten knarrte die Tür und es polterte zweimal, als jemand seine schweren Stiefel auszog. „Querida?“, dröhnte ein kräftiger Männerbass durch das Haus.

„Aquì!“, rief Cecilia als Antwort, und sie schien sich Mühe zu geben, dass man ihr die Erleichterung über den Neuankömmling nicht anhörte.

Polternd kam jemand die Treppe hoch. Cecilia stand auf und ging ihm entgegen. Als sie an mir vorbei huschte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich ein Lächeln in ihr Gesicht schlich und sie um 25 Jahre verjüngte.

Ein bärtiger Mann in einer verdreckten blauen Latzhose trat in die Küche. Cecilia umarmte ihn und stand auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben. 

„Este es mi agimo suizo“, wisperte sie ihm zu. Das sei ihr Freund aus der Schweiz.

Der Mann kam auf mich zu, streckte mir die Hand hin und sagte: „Hugo Montero.“

Ich sah ihm an, dass er gerne eine Floskel wie ‚sehr erfreut‘ angehängt hätte, und dann mit geöffnetem Mund gegen die Sprachbarriere zwischen uns prallte.

„Me llamo Svalbard, mucho gusto“, erwiderte ich und schüttelte ihm die Hand.

„Du sprichst Spanisch?“, quiekste Cecilia überrascht. „Warum sprichst du Spanisch?“

Ich log etwas zusammen von wegen Auslandredaktion der Zeitung, denn die Wahrheit, dass ich wegen ihr Spanisch gelernt hatte, schien mir unangebracht.

Ab da war das Eis gebrochen: Zu Dritt plauderten wir in einem Zweisprachengemisch über alles Mögliche. Cecilia erzählte lebhaft und drehte unbewusst den Teelöffel zwischen den Fingern. Hugo nickte mir freundlich zu, wenn ich aus meinen paar Brocken Spanisch einen Satz zusammenklebte, der halbwegs Sinn ergab. Und ich freute mich still im Innern, dass meine Jugendliebe auch im neuen Jahrtausend noch existierte.

„Ich habe dir ja bereits geschrieben, dass du solange bleiben kannst, wie du willst“, sagte Cecilia am Ende, als wir das Geschirr abräumten. „Wir haben die Gästestube für dich hergerichtet.“

Gerührt dankte ich den beiden für ihre Gastfreundschaft.

„Fühle dich auf dem ganzen Hof wie zuhause.“ Cecilia schaute mich an, und auf einmal lag etwas Seltsames in ihrem Blick. „Ausser die kleine Hütte hinter dem Stall. Die ist privat.“

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